Dampfmaschine

Die Dampfmaschine der ehemaligen Stärkefabrik Görzke

Jürgen Bartlog

 

 

 

„ … also, wat is en Dampfmaschin?

Da stelle mer uns janz dumm.

Und da sage mer so:

En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum,

der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung …“

(Heinrich Spoerl „Feuerzangenbowle“)

 

Kenner wissen natürlich, dass es sich hier um eine Beschreibung handelt,

die dem Schüler Hans Pfeiffer dargelegt wird.

Um die Bedeutung und die Wirkungsweise der Görzker Dampfmaschine

richtig verstehen zu können,

muss man sich aber wohl doch etwas mehr in Einzelheiten vertiefen …

 

 

 

 

 

1. Die Kartoffel und ihre Verwendung

 

Als die Spanier im 16. Jahrhundert die ersten Kartoffeln aus Südamerika, wo sie als Kulturpflanze schon stark verbreitet war, mitbrachten, war die Zeit für diese Hackfrucht in Europa noch nicht gekommen. Da sie in rohem und ungeschältem Zustand als ungenießbar galt, fand sie vorerst keine größere Beachtung. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich der Kartoffelanbau auch in Deutschland in großem Umfang durch. Die leichten Böden der „märkischen Streusandbüchse“ verhalfen dieser Kultur zu starker Verbreitung in unserem Gebiet, was die Entstehung mehrerer Stärkefabriken in der näheren Umgebung zur Folge hatte. Kartoffelflocken zu Futterzwecken und Stärkemehl für die menschliche Ernährung sind die Produkte, die die Fabriken in Belzig, Brandenburg, Wüstenjerichow, Ziesar und Görzke verließen.

 

 

2. Die Stärkefabrik Görzke

 

In welchem Jahr auf dem Hof des Rittergutes Görzke die Stärkefabrikation begann, läßt sich nicht mehr feststellen. In den zur Verfügung stehenden Quellen wird 1890 die Stärkefabrik der Familie Bertrand genannt. Nach der Übernahme der Fabrik durch die

„Kartoffelverwertungs – Genossenschaft

Görzke und Umgegend

e.G.m.b.H.“,

die ihre erste Kampagne 1930 führte, erfolgte bis Ende der 30er Jahre eine starke Vergrößerung des Betriebes und die Modernisierung der Technik. So wurde 1938 die frühere kleine Dampfanlage durch die nachstehend beschriebene leistungsstarke Dampfmaschine ersetzt.

 

Die Kampagne der Stärkeproduktion begann Anfang September und zog sich bis in die Weihnachtszeit hin. Die übrigen Monate des Jahres wurden zur Überholung des gesamten Maschinenparks, für Bau- und Reparaturarbeiten und zur Reinigung der Abwassergräben genutzt. Das war die Zeit, in der nur tagsüber gearbeitet wurde. Von September bis Dezember aber liefen alle Maschinen rund um die Uhr. Jede der drei Schichten war mit fünf Arbeitern besetzt. In 24 Stunden verarbeitete man 55 Tonnen Kartoffeln zu 8 Tonnen Stärkemehl. Hauptabnehmer nach dem 2. Weltkrieg waren die Maizena – Werke in Barby / Elbe, die speziell an dem Görzker Stärkemehl interessiert waren, weil infolge der langsamen Trocknung das Endprodukt eine Struktur erhielt, die für die Weiterverarbeitung vorteilhafter war, als die, der elektrischen Schnelltrockenverfahren anderer Betriebe.

Wilhelm Meck, der von 1956 bis zur Einstellung der Produktion 1976, als Maschinist und Schlosser in der Stärkefabrik tätig war, gab Auskunft über die dortige Arbeit im Allgemeinen und speziell über die Dampfmaschine. Die Maschine wurde Montag morgens 6 Uhr unter Dampf gesetzt und bis Sonntag morgens 6 Uhr betrieben. Der arbeitsfreie Sonntag war für den Schlosser die Zeit der Reparaturen, die bei laufender Maschine nicht möglich waren.

 

 

3. Die Entwicklung der Dampfmaschine

 

Die erste brauchbare Dampfmaschine wurde bereits 1698 gebaut. Sie diente zum Heben von Wasser und bestand im Wesentlichen aus einem Zylinder mit beweglichem Kolben. Größere Verbreitung als diese, fand allerdings die 1769 von James Watt verbesserte Niederdruck-Dampfmaschine, die er 1784 als doppelt wirkende Maschine in Serie brachte. Bei diesem Prinzip wirkt der Dampf nicht nur auf eine Seite des Kolbens, sondern auf beide Seiten abwechselnd. Das System der Doppelwirkung verwendete man auch in einer 1801 gebauten Hochdruckmaschine, die mit einem Betriebsdruck von 8 at arbeitete. Ständige Weiterentwicklung führte schließlich zu dem Stand der Technik zum Beginn des 20. Jahrhunderts, den wir an der Dampfmaschine der Stärkefabrik Görzke vorfinden.

 

 

4. Die Dampfmaschine der Görzker Stärkefabrik

 

Die um 1900 gebaute Dampfmaschine der Firma

„Neumann & Esser

Maschinenbau – Anstalt

Aachen“

wird mit Dampf versorgt vom Dampfkessel der Firma

„Siller & Jamart

Dampfkesselfabrik, Apparate – Bauanstalt

Gegr. 1867

Wuppertal – Barmen“.

Die Genossenschaft baute 1938 den Kessel und die Maschine in die vergrößerten Produktionsräume ein. Bis 1976, also fast 40 Jahre lang, erbrachte diese doppeltwirkende Hochdruck – Dampfmaschine eine ständige Leistung von 180 PS; Energie für Pumpen, Waschanlagen, Reiben, Zentrifugen, Transportbänder, Rührwerke und andere Vorrichtungen der Stärkeproduktion. Der Dampf diente zugleich dem Betreiben der Trockenanlage und der Heizung.

Außerdem wurde mit einem der Treibriemen ein Generator zur Erzeugung von Gleichstrom betrieben, mit dem der Strombedarf für die Beleuchtungszwecke der gesamten Fabrik abgedeckt werden konnte. Die gewaltige Energie, die diese Dampfmaschine erzeugte, wurde gefährlich deutlich, als ausgelöst durch das Abreißen der Kolbenstange, der Kolben den Zylinderdeckel aus seiner Verschraubung von sechszehn einzölligen Schrauben riß und an die gegenüberliegende Wand schleuderte (1 Zoll = 2,615 cm). Als Ersatz für den zerstörten Kolben wurde eine Einzelanfertigung aus Messing eingesetzt.

 

 

5. Der Weg des Dampfes

 

Nachdem der im Dampfkessel erzeugte Wasserdampf mit einem Druck von 12 at in isolierten Rohrleitungen die Maschine erreicht hat, gelangt er durch die Einlaßventile in den Zylinder. Der Kolben in Form einer Scheibe von ca. 100 mm Stärke und einem Durchmesser von 380 mm, befindet sich zwischen den beiden Einlaßventilen. Die Doppelwirkung der Maschine ergibt sich mit dem abwechselnd auf den Kolben wirkenden Dampf von beiden Seiten. Der Hubraum hat eine Gesamtlänge von 600 mm.

Der Abdampf wird nach dem Arbeitsvorgang durch das Auslaßventil in Rohrleitungen zur Trockenanlage geleitet. Das Stärkemehl muß einen bestimmten Trockengrad erreichen, um lagerfähig zu bleiben. Deshalb läuft das halbfertige Produkt etwa 20 Minuten auf etagenförmig angelegten Fließbändern, unter denen die mit dem Dampf beheizten Rohrregister für die Trocknung sorgen. Hierdurch reduziert sich der Feuchtigkeitsgehalt des Stärkemehls von etwa

36 % auf 20 %.

Weiterhin wird der Dampf als Heizung für die Arbeitsräume genutzt. Rohrleitungen führen dann den immernoch energiereichen Wasserdampf ins Freie, wo er als meterhohe Wolke weithin sichtbares Zeichen für das Arbeiten des Kessels und der Maschine ist.

Ein anderes, im Ort nicht zu überhörendes Zeichen ist das Pausen- und Feierabend – Signal gewesen, das mittels einer Dampfpfeife täglich gegeben wurde. Wäre heute die Möglichkeit gegeben, dieses Signal mit dem eigentümlichen Klang noch einmal ertönen zu lassen, würde es sicher so mancher Einwohner als ein vertrautes Stück Görzker Geschichte wiedererkennen.

 

 

6. Die Dampferzeugung im Dampfkessel

 

Der Dampfkessel arbeitet mit einem Betriebsdruck von 12 at. Um diesen Druck zu halten, wurden während der Arbeitszeit von drei Schichten, also in 24 Stunden, 5 Tonnen Braunkohlenbrikett mit hohem Heizwert verfeuert. Die Feuerungstüren verdecken die beiden 10 Meter langen Flammrohre. Die Gesamtheizfläche des Kessels von 94 m² ermöglicht es, aus dem Fassungsvermögen von 36 000 Litern Wasser, pro Stunde 1,8 Tonnen Dampf zu erzeugen.

In den Bestimmungen über die Anlegung von Landdampfkesseln aus dem Jahre 1908 heißt es: „Die Feuerzüge der Dampfkessel müssen an ihrer höchsten Stelle mindestens 100 Millimeter unter dem festgesetzten niedrigsten Wasserstande liegen.“ Zur Kontrolle muß jeder Dampfkessel „mit mindestens zwei geeigneten Vorrichtungen zur Erkennung seines Wasserstandes versehen sein, von denen wenigstens die eine ein Wasserstandsglas sein muß.“

An diesem Kessel befinden sich zwei Wasserstandsgläser mit Entleerungsvorrichtungen zur Reinigung. Die ständige Kontrolle des Wasserstandes und die Einspeisung von Wasser fiel in den Aufgabenbereich des Heizers, genau wie die tägliche Kontrolle der Funktionstüchtigkeit der Wasserstandsgläser.

Zur Reinigung des Kessels machte es sich erforderlich, daß der sogenannte „Kesselklopfer“ bei stillgelegter Heizung durch das Mannloch unterhalb der beiden Feuerungstüren kroch und mit grobem Werkzeug den Kesselstein der Innenwandungen entfernte. Im Gesetz von 1908 wird dazu folgendes festgelegt: „Im allgemeinen sollen die ovalen Mannlöcher mindestens 300 x 400 mm weit sein … Die geringste zulässige Weite ist 280 x 380 mm.“ Trotz der üblichen Größe von 300 x 400 mm der Öffnung dieses Kessels ist es verständlich, daß es nicht jedermanns Sache war, diese Arbeit auszuführen.

 

 

7. Die Steuer- und Regeltechnik

 

Der Dampf gelangt durch die auf dem Zylinder befindlichen Einlaßventile bis zum Kolben, der wechselseitig bewegt wird. Die Schubstangen, die die Einlaßventile und die spiegelgleich unterhalb des Zylinders liegenden Auslaufventile mit dem Regler verbinden, lösen im Falle der Nichtabnahme der vorhandenen Maschinenleistung ein Verengen der Einlaßventile und ein stärkeres Öffnen der Auslaßventile aus. Der hier eingesetzte Flachregler paßt also die Dampfzufuhr der geforderten Leistung an.

 

 

8. Die Schmierung

 

Die Schmierung für sämtliche sich drehende Teile und für den Kolben wird durch die Drehung der Welle und damit auch der Bewegung der Exzenterscheibe erzwungen. Das Gestänge als Verbindung zwischen der Exzenterscheibe und dem Schmiermechanismus bewirkt das Einspritzen einer bestimmten Menge von Öl in die Leitungen. Ein Behälter ist mit Maschinenöl für die äußeren Schmierstellen gefüllt. Der Kolben wird mit Heißdampföl aus dem anderen Behälter versorgt.

 

 

9. Die Übertragung und Nutzung der erzeugten Energie

 

Mittels der Kurbelwelle werden die zwei verschiedengroßen Antriebsräder bewegt. An der Decke des Maschinenraumes laufen zwei Wellen mit mehreren Laufrädern für die Treibriemen, mit denen alle Maschinen der Fabrik angetrieben werden. Die Laufräder sind von unterschiedlicher Größe und treiben die Maschinen durch die Übersetzung auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit an.

Um das Antriebsrad beim Auflegen des Gurtes oder beim Einstellen der Ventile in eine gewünschte Lage zu bringen, besteht mit Hilfe eines Handhebels die Möglichkeit, das Rad rückwärts weiterzubewegen.

 

 

10. Die Bedeutung der Dampfmaschine früher und heute

 

Als Abnehmer der in der Görzker Umgebung angebauten Kartoffeln, muß die Stärkefabrik als ein zu seiner Zeit wichtiger wirtschaftlicher Faktor des Ortes genannt werden.

Die Dampfmaschine hat als Kernstück der Fabrik somit nicht nur ein wenig die Görzker Geschichte mitbestimmt, sondern ist heute noch ein Stück technischer „Geschichte zum Anfassen“. Auch wenn die Zeit, mit dem heutigen Stand der Technik, die Dampfmaschine überholt hat, und andere Technologien an ihre Stelle getreten sind, ist es wünschenswert, dieses technische Denkmal unseren Nachkommen zu erhalten und zugänglich zu machen. Den Wert dieser letzten noch vorhandenen Dampfmaschine des Kreises Belzig, die zugleich die einzige dieser Bauart in der DDR ist, zu erkennen und für ihre Erhaltung zu sorgen, ist die eine Seite der Aufgabe, die im Interesse folgender Generationen heute vor uns steht, andererseits muß die Nutzung dieses Zeugen früheren Maschinenbaus als Anschauungs- und Lehrobjekt für die Schule und jeden Interessierten ermöglicht werden. (Urtext 1987)

 

Quellen: Protokollbücher der Stärkefabrik Görzke
  „Reichsgesetzblatt“ 1909
  „Anzeiger für Görzke“ 1916
  „Brockhaus“ 1930
  „BI Universal – Lexikon“ 1985
  „Kleine Enzyklopädie Technik“ 1961
  Technische Daten von Wilhelm Meck, Görzke

 

 

 

Bis 1989 war das Schicksal dieser Dampfmaschine noch ungewiss.

Einerseits drohte der Untergang in einem, dem Verfall preisgegebenen Gebäudeteil,

andererseits stand ein Verkauf ins Ausland im Raum.

 

Da die Maschine eine Reihe von Besonderheiten in der Konstruktion aufweist,

besitzt sie technikgeschichtliche Bedeutung

und ist heute als Denkmal registriert.